Ist Fairness messbar? Das Vergütungssystem der Messe Berlin
Wie geht faire Bezahlung in der Praxis? Lässt sich Gerechtigkeit überhaupt messen? Und woran können wir sie festmachen? Dr. Julia Borggräfe hat Antworten auf viele dieser Fragen gefunden. Beim ersten Fair Pay Management Circle teilte sie ihre Erfahrungen als Personalchefin der Messe Berlin mit Experten und Entscheidungsträgerinnen aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik.
Die Messe Berlin erstreckt sich auf 180.000 Quadratmeter Fläche und beschäftigt etwa 900 Mitarbeitende. Viele von ihnen sind schon lange dabei, Betriebszugehörigkeiten von 20 bis 30 Jahren sind keine Seltenheit. Doch die Branche ist zunehmend akademisiert worden, die Arbeits- und Anforderungsprofile haben sich deutlich gewandelt. Die Folge: Viele der älteren Beschäftigten finden sich mit ihren ursprünglichen Tätigkeiten in den heutigen Stellenausschreibungen kaum noch wieder. Die tariflichen Eingruppierungen von alten und neuen Beschäftigten gestalteten sich zunehmend schwieriger.
Es war also keine leichte Aufgabe, die Julia Borggräfe 2013 bei dem Traditionsunternehmen übernahm. Die Ausgangslage: historisch gewachsene Vergütungsstrukturen – positiv formuliert. Das Ziel: ein objektives, faires und geschlechtsneutrales Vergütungssystem – ehrgeizig, vorsichtig formuliert.
Doch wo ein Wille, da auch ein Weg, und die Messe Berlin wollte. So unterzog sich das Unternehmen 2014 zunächst dem Entgeltgleichheits-Check , um die Gehaltsstrukturen zu analysieren und ungleiche Bezahlung sichtbar zu machen. Nachdem alle Funktionen, Tätigkeiten und Weiterentwicklungswege im Unternehmen systematisch definiert und beschrieben worden waren, fiel vor allem auf: Die psychosozialen Anforderungen waren bislang überhaupt nicht berücksichtigt worden – und sorgten für eine Schieflage im Vergütungssystem.
Die neue Gehaltssystematik der Messe Berlin, die an den Tarifvertrag für den Öffentlichen Dienst gebunden ist, erfasst nun neben vielen anderen Funktionsbewertungen auch diese als „typisch weiblichen“ geltenden Anforderungen. „Je systematischer und präziser die Bewertung von Funktionen“, so Borggräfe, „desto weniger Spielraum gibt es für ungleiche Bezahlung.“
Eine Methode mit Zukunft
Inzwischen erfolgt der Eingruppierungsprozess bei der Messe Berlin über eine umfassende Bewertungsmatrix. Die Basis für ein objektives, nachvollziehbares und diskriminierungsfreies Bewertungssystem steht. Doch jedes System muss mit Leben gefüllt werden – trotz aller Altlasten und der Furcht vor Umgruppierungen unter den Beschäftigten. Verständlich: Niemand gibt gern Privilegien auf.
„Im Prinzip könnte das System auch gesamtgesellschaftlich Anwendung finden, um Tätigkeiten neutral zu bewerten“, erläutert Borggräfe. „So ließe sich zum Beispiel auch herausfinden, ob die unterschiedlichen hohen Gehälter in Erziehungsberufen oder im Ingenieurwesen gerechtfertigt sind – oder ob wir radikal umdenken müssen, wie wir Arbeit bewerten.“
Transparenz, so Borggräfe, die die Messe Berlin zum Jahresende 2017 verlässt, sei eines der wichtigsten Instrumente auf dem Weg zu fairen Entgeltsystemen. Ab Januar 2018 unterstützt sie Unternehmen beim Kulturwandel. Ihre Methode hat Zukunft: Im November 2017 wurde das neue Vergütungssystem mit dem Erfinderinnenpreis der women&work ausgezeichnet.
Der 1. Fair Pay Management Circle
"Das Entgelttransparenzgesetz in der Umsetzung" diskutierten Ende November in Berlin etwa 30 Expertinnen und Entscheidungstragende aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik.
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